Das unbequeme Erbe nicht ausschlagen: Das Seminar „Deutschmale“

An der Universität Kassel beschäftigten sich Studierende am Fachgebiet Städtebau mit einer Betrachtung von Orten, die schwierige Ereignisse unserer Geschichte inkorporiert haben – Eine Annäherung an das Thema „Dissonant Heritage“.

Durch die Festnahme eines untergetauchten Mitglieds geriet die linksterroristische Rote Armee Fraktion (RAF) kürzlich erneut wieder in den Fokus der Berichterstattung. Dies rief eine kontroverse Phase der bundesdeutschen Geschichte hervor, die auch heute noch Debatten entfacht. Ähnlich verhält es sich in der Berichterstattung zu den rechtsterroristischen Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) – Ereignisse und zusammenhängende Taten bei denen es sich nicht zuletzt im jüngste Geschichte handelt. Doch was bleibt, nachdem die Zeitzeug*innen verschwinden? Es sind die Tatorte und Räume, in denen sich diese Ereignisse zutrugen. 

Prof. Stefan Rettich, Leiter des Fachgebiets Städtebau an der Universität Kassel bot im Wintersemester 2023/24 das Seminar „Deutschmale“ an, in dem Teilnehmer*innen darüber nachdenken sollten, wie diese Orte in einen neuen Denkmalbegriff überführt werden könnten.

Dissonant Heritage: Ein neuer Denkmalbegriff

Beim Begriff „Denkmal“ tauchen vor dem geistigen Auge Bilder von baukulturellen Höchstleistungen auf. Ende der 1990er Jahre, im Zuge der Diskussionen über die baulichen Überreste der NS-Diktatur, trat jedoch im Denkmaldiskurs erstmals der Begriff des „unbequemen Erbes“ oder auch der „Dissonant Heritage“ auf. Vertreter*innen dieser Ansicht – unter ihnen auch der Kunsthistoriker Norbert Huse – argumentierten, dass problematische geschichtliche Ereignisse am besten durch die Erfahrung von Orten, Gebäuden oder Landschaften vermittelt werden können, und somit für den Erhalt negativ behafteter Bauwerke.

Unbequemes Erbe in der Lehre

Das Seminar folgte der Methode, nach einer Schnellrecherche die ausgewählten Themen mit dem erweiterten Denkmalbegriff gegenüberzustellen. Im ständigen Abgleich mit der Recherche und dem Begriff sollten die Teilnehmer*innen ihr Thema das Semester über vertiefen. Eine zentrale Aufgabe bestand darin, die Informationen grafisch aufzubereiten, unter anderem durch Mappings und Infografiken. Die erstellten Karten boten unter anderem einen Überblick über die Orte des rechts- und linksradikalen Terrors, wodurch Beziehungen und Verbindungen zwischen den Tatorten und dem architektonischen und städtebaulichen Kontext verdeutlicht wurden. 

Im Februar 2024 haben die Studierenden ihre Ergebnisse in Form von Tafeln auf dem Kasseler Nordcampus präsentiert. So ließ sich seitens der Teilnehmer*innen die Wirkung der Plakate auf die Öffentlichkeit testen und in diesem Zuge das essenzielle Thema der Vermittlungsfrage vom unbequemen Erbe thematisieren.

Kernkraft, Tierversuche und Klimaproteste

Heute sind Stätten des totalitären Systems und sogenannte „Täterorte“ wie das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg oder das Areal am Obersalzberg längst integraler Teil deutscher Gedenkkultur. Dabei inkludiert der Begriff „Dissonant Heritage“ auch die Orte, an denen gesellschaftlich kontroverse Themen wie Kernenergie, Tierversuche oder eine Opposition zu fossiler Energieerzeugung ausgehandelt werden. Über den Umgang mit den Überresten des atomaren Zeitalters hatte sich Prof. Rettich mit seinen Studierenden bereits in Lehre und Forschung beschäftigt.