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Vorbei mit CO2?

Auf dekarbonisierte Materialien bauen

Editorial

Auf dekarbonisierte Materialien bauen

von Johannes Medebach

Es ist das vielseitigste chemische Element, die Grundlage für alles Leben auf der Erde und der Stoff auf dem unsere Ökonomie fußt: Carbon oder auch geläufiger Kohlenstoff. Dennoch ist in den letzten Jahren die Forderung nach einer Dekarbonisierung immer lauter zu vernehmen – einer Transformation zu einer Wirtschaft, die kaum noch Kohlenstoff umsetzt. Denn überall wo der Mensch mit Carbon arbeitet, gerät Kohlenstoffdioxid (CO₂) in die Atmosphäre und das zu einem so großen Anteil, dass die globale Erwärmung immer schneller vonstattengeht. Im Jahr 2022 waren es 37,2 Milliarden Tonnen, Tendenz steigend. Die Baubranche war an dieser Menge mit 37 Prozent beteiligt. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung.

Wie könnte man beim Bauen CO₂-Emissionen verhindern oder zumindest kompensieren? Während eine Dekarbonisierung der Energiewirtschaft durch erneuerbare Energien oder Sparmaßnahmen einfach denkbar ist, gestaltet sich dies bei der Produktion herkömmlicher Baustoffe wie Zement, Stahl, Glas und Kunststoffen deutlich schwieriger. Deren Herstellung erzeugt nach wie vor eine wahre Kohlenstoffdioxid-Schwemme, obwohl die Industrie bereits an CO₂-reduzierten Verfahren arbeitet. Dekarbonisierung beim Bauen kann an vielen Stellschrauben ansetzen, beispielsweise durch sinnvolle Umnutzung vom Bestand oder durch den Einsatz alternativer Baustoffe und Bauweisen. Wir beleuchten in dieser Focus-Ausgabe einige Ansätze auf der Materialebene. 

Zunächst beginnen wir mit einem Blick zurück in die Geschichte des wohl klimaschädlichsten Baustoffes. Der Architekturhistoriker Kim Förster erforscht an der University of Manchester die Entwicklung der Zementindustrie und deren Auswirkungen auf die Umwelt. Seine Arbeit trägt einen wichtigen Baustein zum grundlegenden Verständnis von Materialkulturen bei. Ein Szenario für einen klimaverträglichen Umgang mit Beton stellen wir mit dem Schweizer Unternehmen neustark vor. Dieses hat ein Verfahren entwickelt, bei dem Kohlenstoffdioxid in recycelten Beton eingelagert und dessen Eigenschaften sogar verbessert werden. Das dänische Büro Henning Larsen hat eine Materialfibel zum Abgreifen von klimarelevanten Daten für Architekturschaffende erarbeitet, die wir vorstellen.

Einst gefeiert, heute kritisiert

Kim Förster zur Umweltgeschichte des Zements

Text von Sorana Radulescu

Der weltweit am häufigsten verwendete Baustoff ist gleichzeitig auch der umweltschädlichste. Ein Dilemma, dem sich die Bauindustrie stellen muss. Ist überhaupt eine Zukunft des Bauens ohne Zement vorstellbar? Der Architekturhistoriker Kim Förster ist der Meinung, dass wir uns zunächst kritisch mit der Materialgeschichte und dem Dekarbonisierungs-Narrativ des kontroversen Materials auseinandersetzen sollten. Seit 2019 untersucht er an der University of Manchester die Geschichte der Zementindustrie. In seiner Forschung und Lehre offenbart Förster die Komplizenschaft von Architekturtheorie und -geschichte bei der Konsolidierung einer Industrie mit verheerenden globalen Folgen.

Klimasünder aus Kalkstein, Sand, Kies und Wasser

Toxische Herstellungsprozesse, der Abbau von Sand und Kies, die Verbrennung großer Mengen von Brennstoffen und die Versiegelung von Bodenflächen – all dies sind umweltschädliche Auswirkungen der Zementproduktion. Etwa acht Prozent der weltweiten Kohlendioxidemissionen resultieren aus den chemischen Prozessen die während der Herstellung der rund 4 Milliarden Tonnen Zement jährlich weltweit anfallen. Der geringere Anteil des CO₂-Ausstoßes ist auf die fossilen Brennstoffe, die für die Erhitzung des Zementofens auf 1600 Grad benötigt werden, zurückzuführen. Wesentlich ist hingegen die Emission, die aus der Umwandlung von Kalkstein in Zementklinker resultiert. 

Der blinde Fleck

Trotz des Missbrauchs an der Natur wurde die Zementindustrie in der Umwelt-, aber auch in der Architekturgeschichte und -kritik weitgehend übersehen. Kim Försters akribische Analyse der Fachliteratur des 20. Jahrhunderts – von Sigfried Gideon, über Katie Lloyd Thomas, Adrian Forty bis hin zu Anselm Jappe – hat aufgezeigt, dass die ökologischen Auswirkungen der Zementherstellung weitestgehend vernachlässigt wurden. Indem er die gesamte Wertschöpfungskette im Kontext von Modernität und Kultur betrachtet, hinterfragt Förster die gewachsene Abhängigkeit zum Baustoff und sucht nach Wegen, diese zu überwinden. 

Eine kritische Reflexion über Baukultur in der Lehre

Gemeinsam mit Ksenia Litvinenko und Studierenden der Manchester University befasste sich Kim Förster auch im Rahmen seiner Lehre 2021/22 mit der Umweltgeschichte des modernen Baumaterials. Seiner Recherche zufolge erfuhr das Zementwerk als Bautypologie in der Architektur bislang nur geringe Beachtung, obwohl es einer der Schauplätze des Anthropozäns ist. Ziel war es, den Studierenden zu helfen, ein neues Materialvokabular aufzubauen, sich forensische Recherchemethoden anzueignen und die Wertschöpfungskette – von der Materialgewinnung bis zum Abriss – zu verstehen. 

Im Rahmen des Wahlfachs besuchte das Team die Hope Cement Works, das größte Zementwerk des Vereinigten Königreichs, das 15 Prozent der nationalen Produktion gewährleistet. Die Lage im Peak District, dem ersten Nationalpark des Landes, und die Umzäunung des Industriegeländes, erschwerten die Erkundung des Areals. Dennoch diente die forschende Beschäftigung mit dem Fallbeispiel den Studierenden als Grundlage, um die Daten und Kennzahlen zum Fußabdruck des Werks zu interpretieren und die komplexen Zusammenhänge des Produktionssystems zu verstehen. Sie teilten die Analyse in drei Themenschwerpunkte ein: Bau und Kultur, Wirtschaft und Ökologie sowie Landschaft und Territorium. Das Ergebnis dieser forschenden Auseinandersetzung war eine übergreifende kritische Hinterfragung einer lange Zeit verharmlosten Industriebranche.

Beton als Antwort

Klimastrategien des Schweizer Unternehmens Neustark

Text von Paula Eggert

Im Vergleich zur vorindustriellen Zeit hat sich die Welt aufgrund von Treibhausgasemissionen bereits um ein Grad Celsius erwärmt. Um diese Entwicklung einzudämmen, unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs von 195 Ländern im Pariser Abkommen das 1,5-Grad-Ziel. Zur Einhaltung müsste die Welt bis 2050 das Netto-Null-Ziel erreichen. Das Schweizer Unternehmen Neustark setzt sich daher nicht nur für die Reduzierung von Emissionen ein, sondern auch für die proaktive Entfernung von Kohlenstoffdioxid aus der Atmosphäre. Mit der dauerhaften Speicherung von CO₂ in Beton möchte das 2019 gegründete Unternehmen mit Wurzeln an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) einen Schritt Richtung Klimaziele gehen.

Graue Energie

Unsere gebaute Umwelt ist maßgeblich an der Entstehung menschlich erzeugter Treibhausgasemissionen beteiligt. Dabei spielt die graue Energie eine wichtige Rolle. Hierzu zählt nicht nur die Energie, die für die Materialgewinnung und die Infrastrukturen auf den Baustellen aufgewendet wird, sondern auch der Abbruch des Gebäudes. Sowohl bei der Herstellung als auch später beim Abbruch von Beton wird besonders viel CO₂ freigesetzt. Lösungsansätze finden sich daher häufig in der Holzbauweise. Doch Wissenschaftler*innen warnen bereits vor der intensiven Abholzung von Wäldern. Zudem benötigt jeder Übergang zum Holzbau Zeit, bevor sich die Auswirkungen auf die Emissionen zeigen. Erst, wenn neue Bäume nachgewachsen sind, handelt es sich nicht nur um einen reinen Transfer des Kohlenstoffs von Wald zum Neubau.

Negative Emissionen

Eine Lösung könnte neben schnell nachwachsenden Rohstoffen ausgerechnet im Abbruchbeton liegen. Neustark entwickelt hierfür eine Negative-Emissionen-Technologie – im Fall von Kohlenstoffdioxid auch als „Carbon Dioxide Removal“ (CDR) bezeichnet. Die Entwickler*innen nutzen die natürliche Carbonatisierung von Beton. Dabei reagiert das im Beton enthaltene Calciumhydroxid über viele Jahre hinweg mit Kohlendioxid aus der Luft, wodurch Kalkstein entsteht. Neustarks CDR-Verfahren ermöglicht eine Beschleunigung der Aufnahme von CO₂. Im Rahmen von DemoUpCARMA, einem kooperativen Forschungsprojekt der ETH, konnte die Technologie erstmals 2022 im industriellen Maßstab angewendet werden. 

Für das CDR-Verfahren hat das Unternehmen ein mobiles System entwickelt, um die Karbonatisierung vor Ort bei Recyclingwerken oder Abbruchstellen zu ermöglichen. Dafür verflüssigt Neustark Kohlenstoffdioxid von Klär- oder Biogasanlagen und transportiert es zur mobilen Mineralisierungsanlage. Verdampfer bringen das CO₂ zurück in den gasförmigen Zustand. Daraufhin mineralisiert das CO₂ in Verbindung mit der rezyklierten Gesteinskörnung des Betons und wird in Form von Kalziumcarbonat dauerhaft gespeichert. Die angereicherte Gesteinskörnung lässt sich nun zu Recyclingbeton weiterverarbeiten.

Heilende Architektur?

Jede Tonne recycelter Gesteinskörnung kann rund 13 Kilogramm CO₂ binden. Labortests der Empa haben gezeigt, dass der angereicherte Recyclingbeton eine höhere Druckfestigkeit aufweist als Primärbeton, was zu einer Reduzierung des Zementanteils und der damit verbundenen Emissionen führen kann. So könnte unsere gebaute Umwelt in Zukunft eine aktive Rolle in der Kohlenstoffsenkung unserer Atmosphäre spielen. Sollten Planende die gebaute Umwelt womöglich weniger als ein Problem betrachten, sondern viel mehr als potenziellen Lösungsansatz? Durch eine radikale Umstellung auf biobasierte und sekundäre Materialien können Gebäude von Kohlenstoffemittenten zu Kohlenstoffsenkern werden. Die erforderlichen Materialien und Technologien sind bereits vorhanden.

Unboxing Carbon

Ein Katalog zum CO2-Sparen

Text von Johannes Medebach

Architekturschaffende müssen sich bewusst sein, dass ihre Entwürfe im Falle einer Ausführung einen Effekt auf die globale CO₂-Bilanz haben. Wie viel Kohlenstoffdioxid ist in meinem Entwurf gebunden, beziehungsweise was bedeutet das Gebundensein eigentlich? Diese Fragen dürfte sich mache*r Architekt*in stellen. Die Antwort darauf ist keine sehr einfache, denn der Prozess hängt  von mehreren Faktoren ab. Das dänische Architekturbüro Henning Larsen hat in den letzten Jahren mehrere Werkzeuge entwickelt, wie sich Personen aus den planerischen Berufen Klarheit über die Frage des sogenannten „embodied carbon“ verschaffen können 

CO₂-Sparen will gelernt sein

„Unboxing carbon“ heißt der Workshop, den Henning Larsen speziell für Architekt*innen anbietet, um für die CO₂-Emissionen von Baumaterialien zu sensibilisieren. Dort lernen die Teilnehmenden beispielsweise, wie man eine sogenannte „Environmental Product Declaration (EPD)“ entschlüsselt. Dabei handelt es sich um einen internationalen Standard, dem die Auswirkungen eines bestimmten Baustoffes für die globale Klimaerwärmung zu entnehmen ist. Diese sind jedoch relativ komplex und eignen sich nicht für eine direkte Anwendung. Das im Seminar gewonnene Wissen aus den Datensätzen bleibt aber nicht nur den Kursteilnehmer*innen vorbehalten, sondern gelangt über den Online-Katalog „Unboxing Carbon – The catalog“ als Open Source an die Öffentlichkeit.

Zugänglich und vergleichbar

Der Katalog ist als PDF downloadbar und soll helfen, künftige Materialentscheidungen in der Planung zu treffen. Die Inhalte sind in der für Architekt*innen geläufigsten und verständlichsten Einheit, in Quadratmetern, aufbereitet und somit rechnerisch auf Bauvorhaben einfach übertragbar. Wie viel CO₂ beispielsweise ein Quadratmeter Acrylglas von der Produktion bis zum Zeitraum der regelmäßigen Benutzung des Gebäudes ausgestoßen hat, ist dort grafisch aufbereitet und ganz intuitiv nachzulesen. Es handelt sich um einen gut sortierten Katalog: Alle Materialien sind gruppiert in Kategorien wie „Ziegel“ oder „Natursteine“. So entsteht durch das Nebeneinander der einzelnen Baustoffsteckbriefe eine gute Vergleichbarkeit. Weitere dort aufgelistete Informationen sind die herstellenden Firmen, grundsätzliche Materialeigenschaften, Materialdicke sowie Brandschutzwerte. Alle Daten sind darüber hinaus mit der ursprünglichen EPD-Quelle verlinkt.

Planungsentscheidungen zugunsten des Klimas

Henning Larsen erstellte bereits vor zehn Jahren einen ähnlichen Materialkatalog, bei dem neben Faktoren wie Ästhetik, Preis oder ethischen Gesichtspunkten auch der CO₂-Fußabdruck eines Materials vermerkt war. Mit den Workshops und dem jetzigen Katalog möchte das sich Unternehmen der ökologischen Verantwortung stellen, die die Bau- und Immobilienindustrie bis dato nicht wahrgenommen hat. In der Bereitstellung und Verbreitung von handfesten Daten möchte das Büro seinen Beitrag dazu leisten, dass Architekt*innen künftig Entscheidungen schneller zugunsten des Klimas fällen können.